Kapitel 1 – Lynareía

 

 

 

Lynareía stand am Heck eines schönen Segelschiffs der Elfen, das sanft in der See vor der Küste Elkas schwankte. Ihr hüftlanges, glattes, blausilbernes Haar schimmerte im Licht der aufgehenden Sonne wie Perlmutt. Ihre Augen, strahlend blau wie das flache Wasser vor einem weißen Sandstrand, blickten gedankenverloren in das von dem Schiff aufgewühlte Wasser. Knapp eine halbe Stunde zuvor hatte das Schiff in Otrive abgelegt. Nun segelte es, unterstützt von Wind- und Wassermagie, nach Osten. Dort lag, gerade so am Horizont zu erahnen, eine Insel in der See, die Insel der Magie.

 

 

Lynareía lauschte den Klängen des Wassers, durch den hindurchgleitenden Schiffsrumpf aufgewühlt, und blickte zurück zur Insel Elka, ihrer Heimat. Gestern erst, ungefähr zur selben Stunde, hatte sie im Hafen von Adra unter vielen Tränen von ihrer Mutter, ihrem Vater und ihrem kleinen Bruder Abschied genommen und war auf eben dieses Schiff gestiegen. Es war am Abend zuvor aus der Hauptstadt Ithlad im Norden gekommen und am darauffolgenden Abend hatten sie Otrive erreicht, wo sie am Morgen die Erwählten aus Irdal und Otrive selbst aufgenommen hatten.

 

 

Sie dachte darüber nach, warum sie auf diesem Schiff war. Einem Schiff, dass sie von ihrer geliebten Heimat, ihren Freunden und ihrer Familie wegtrug, die sie wohl erst in ein paar Jahren wiedersehen würde.

 

 

Wie alle Elfen besaß sie eine angeborene magische Begabung. Ihre Begabung jedoch war in ihrem 17. Lebensjahr vergleichsweise früh erwacht (die Alterung der Elfen verlangsamte sich mit der Zeit, was ihnen ein fast unendlich langes Leben bescherte und die Pubertät im Vergleich mit den Menschen gewöhnlich um ungefähr zwei Jahre verlängerte), außerdem war ein Jahr danach ebenfalls klargeworden, dass ihre Begabung ungewöhnlich stark war und sich nicht wie üblich auf die grundlegende Magie beschränkte. Damit war klar, dass Lynareía eine sogenannte „Erwählte“ unter den Elfen mit besonders starker Magie war. Das bedeutete, dass sie ihre Heimat verlassen und die Akademie besuchen würde.

 

 

Als sie nach Osten blickte, erspähte sie den großen Hauptturm der Akademie auf der hohen Klippe am südlichsten Punkt der Insel, der sich dunkel von dem Licht der dahinter aufgehenden Sonne abhob. Obwohl sie sich sehr darauf freute, ihre Begabung zu vertiefen, ihren Geist zu trainieren und zu sehen, wozu ihre Magie in der Lage war, war ihr unwohl bei dem Gedanken an das, was vor ihr lag (Und zwar nicht ohne Grund, wie wir später erfahren werden!). Nicht weil sie ihre Heimat verließ, sie wusste sie würde sie in ein paar Jahren fast unverändert wiedersehen, sondern weil die Insel der Magie nicht nur Lehrlinge der Elfen beherbergte.

 

 

Unter den Elfen gab es immer noch viele, die den Angriff der Menschen auf ihre alte Heimat Idrithil in den Wäldern Taras und die Abweisung durch die Bergvölker auf ihren Hilferuf hin selbst erlebt hatten. Lynareía hatte deren Geschichten oft bis tief in die Nacht gelauscht. So wusste sie, wie falsch und hinterlistig, egoistisch und manchmal sogar grausam Zwerge, Orks und insbesondere Menschen sein konnten. Sie konnte nicht verstehen, wie irgendjemand einem fühlenden Wesen bewusst Schaden konnte, teilweise wie es schien grundlos, aus reiner Freude. Sie konnte nicht verstehen, warum man hilfesuchenden Opfern von Gewalt seine Hilfe verweigern würde. Ihr wollte keine Erklärung einfallen, warum man Wahrheiten verschweigen sollte und stattdessen lieber erfundene Geschichten erzählte. Sie fürchtete sich davor, den Söhnen und Töchtern der Völker zu begegnen, die dazu in der Lage schienen.

 

 

Sie wusste zwar, dass die Akademie gegründet wurde, um eben diese Ängste und Spannungen unter den Völkern aufzulösen und freundschaftlichen Austausch zwischen ihnen zu ermöglichen. Sie wusste, dass sie nur in der eigentlichen Akademie mit den anderen Völkern zu tun haben würde. Sie würde mit den anderen Erwählten der Elfen im Wald auf der Insel leben, getrennt von den Anderen. Sie wusste auch, dass die ganze Akademie unter dem Schutz der Drachen und der Lehrmeister stand und sie dort so sicher war, wie es wohl sonst nirgendwo in Eltara der Fall wäre. Doch das Alles reichte immernoch nicht aus, um das mulmige Gefühl bei dem Gedanken an die kommenden Jahre zu verscheuchen.