Kapitel 6 - Abwarten und Tee trinken

 

 

 

Lange lag ich wach in meinem alten Bett in dem kleinen, staubigen Kämmerchen unter dem Dach. Lange dachte ich daran, wie schön und glücklich und liebevoll mein Leben einmal gewesen war. Lange grübelte ich darüber nach, wie sich aus diesem Leben die Hölle geformt hatte, die mich nun jeden Tag erwartete. Ich erinnerte mich an meine Mutter, die vor 10 Jahren gestorben war. Daran, wie mein Vater nur Tage später mit dieser Frau auftauchte, die bald meine Stiefmutter werden sollte. Wie ich mein Zimmer an die kleine und ach so süße Tochter dieser Frau hatte abtreten müssen. Sie war eine verzogene junge Göre, die von meiner Stiefmutter und damit auch meinem Vater alles bekam, was sie wollte, wenn sie nur ihren Welpenblick aufsetzte. Das seltsam beruhigende Rauschen des Heizkörpers neben mir schläferte mich schließlich ein und ich fand mich wieder in dem Wald, der schon seit Langem mein Rückzugsort war. Der Ort, an dem ich mich vor meinem ungerechten Leben verkriechen konnte, wohin es mich nicht verfolgen konnte.

 

 

Lynareía wurde an der Hand gepackt und an dem unfreundlichen Menschen vorbei in die Stadt gezogen. Sie ließ sich von Ellijara führen und nahm ihre Umgebung kaum wahr. Sie war zu geschockt und verängstigt von ihrer ersten Begegnung mit einem Menschen. So etwas hatte sie nicht erwartet. Man hatte ihr gesagt, dass Menschen emotional und unüberlegt sein konnten, sogar falsch und verlogen und neidisch auf die magische Kraft der Elfen.Trotzdem war sie auf derart offene, aggressive Feindseligkeit nicht gefasst gewesen. Kurz darauf erreichten sie das Teestüble, wie ein Schild über der Tür verkündete und Ellijara dirigierte sie zu einem der Tische, die vor den Fenstern standen. Ellijara bedeutete Lynareía, sich doch zu setzen, als diese abwesend stehenblieb, offensichtlich in Gedanken über das eben Geschehene. Lynareía ließ sich unbeholfen auf dem dargebotenen Stuhl nieder, wobei sie fast die Sitzfläche verfehlte und auf dem Pflaster landete.

 

 

Da ist wohl jemand ganz in seinen Gedanken versunken, ist alles in Ordnung?, fragte Ellijara kichernd, gleichzeitig aber ernst und besorgt. Ich weiß nicht..., stammelte Lynareía. Ihre Gedanken tanzten noch zu sehr umher für eine genauere Antwort: Warum war dieser Mensch so aggressiv? Waren die anderen Menschen auch so unfreundlich? Und was war mit den Zwergen und den Orks? Wie sollte sie mit den anderen Völkern gemeinsam lernen und Freundschaften schließen, wenn diese die Elfen abwiesen? Warum wurden sie überhaupt abgewiesen? Was hatten sie, und Lynareía selbst im Besonderen,  den anderen Völkern je getan, das solchen Hass rechtfertigen würde?  Ihre Furcht vor dem gemeinsamen Unterricht mit den Vökern Taras war nach diesem Zusammentreffen größer als je zuvor, und an ihr nagten Zweifel. Wie sollte ein in eine Wand gemeißeltes Gedicht, dabei helfen, diesen Abgrund zwischen den Völkern zu überwinden? Was brachten Worte, wenn der Angesprochene nicht zuhören wollte?

 

 

Ellijara schien ihre Gedanken zu erahnen, denn sie sprach beruhigend zu ihr: Keine Angst, die meisten Menschen sind freundlich und offen, genauso die Zwerge und Orks. Nur sind wir Elfen für sie eben neu und anders, das fürchten sie, genau wie du sie fürchtest. Andersherum ist es sogar noch schlimmer, weil wir Elfen ihnen auf magischer Ebene zumeist weit überlegen sind. Allerdings gehen besonders die Menschen und Zwerge mit dieser Angst anders um als wir. Sie versuchen, ihre Angst und Unsicherheit hinter gespielter Stärke zu verbergen, weil sie sich für ihre vermeintliche Schwäche schämen. Anstatt mit Annäherung und Beobachtung begegnen sie Unbekanntem oft mit Abweisung und Vorurteilen. Dieser junge Mann will dir nichts Böses, sonst wäre er nicht hier. Er hat seine magische Kraft wie du auch wegen der Magie des Paktes, und der große Friedenspakt erwählt seine Schüler nicht ohne Grund. Du hast seine Kraft selbst gespürt. Diese Kraft schützt dich und treibt Leute wie ihn auf den richtigen Weg. Mach dir keine Sorgen, du am allerwenigsten. Mit dir hat der Pakt noch Großes vor, was auch immer das sein mag.

 

 

Ellijaras Redefluss wurde von einer Menschenfrau unterbrochen. Sie brachte ihnen zwei Tassen Tee (deren Bestellung Lynareía verpasst hatte). Die beiden Elfen tranken schweigend. Lynareía wurde wieder ruhiger und der Sturm in ihrer Gedankenwelt flaute langsam ab. Der Pakt beschützte sie. Das war, wie sie wusste, eine Tatsache. Schließlich fühlte sie seine Kraft noch immer in ihrem eigenen Körper pulsieren, wie den warmen Puls eines zweiten Herzens. Sie musste Ellijara zustimmen. Sie war für irgendetwas Wichtiges bestimmt. Sie würde ihre ganze Kraft dieser Aufgabe widmen, worin auch immer sie bestehen mochte.

 

 

Nach dem beruhigenden Tee wurde Lynareía durch die Stadt geführt. Es war eine recht normale Stadt für die Menschen. Für Lynareía jedoch waren die mehrgeschossigen, rechteckigen Häuser aus Stein und Holzbalken, die mit ihren spitzen Dächern Wand an Wand an gepflasterten Gassen standen freilich ein neuer Anblick. Ihr kam alles so riesig und perfekt vor, allerdings fehlte ihr das Grün, die Bäume, die Natur. Nach einer Weile fühlte sie sich unwohl zwischen den harten, geraden Wänden und war froh, als sie die Stadt durch das Nordtor verließen, um die Heimstätten der Zwerge und Orks zu besuchen.

 

 

Die Heimat der Orks glich einem zu groß geratenen Zeltlager. Feste Behausungen gab es keine, nur einen riesigen Pavillon im Zentrum auf einem Hügel, um den sich unzählige Feuerstellen und Zelte verschiedenster Formen, Farben und Größen tummelten. Ellijara erklärte ihr, das hier nur wenig geregelt ablief. Die Orks waren kein Volk, dass sich in Städten unter einer Führung organisierte, sie lebten lieber nach ihren eigenen Regeln. Als sie vom Lager der Orks nach Westen gewandert waren und von einer Anhöhe aus die Stadt der Zwerge in Sicht kam, stockte Lynareía der Atem, so unglaublich schön und überwältigend war ihr Anblick. Sie war in die Flanke des höchsten Berges gearbeitet, direkt aus dem strahlend weißen Marmor gehauen und mit den Früchten des Berginneren verziert, wie ein gewaltiges, atemberaubendes Relief. Im rötlichen Licht des nahenden Sonnenuntergangs sahen die Mauern, Zinnen und Türme dieses riesenhaften Kunstwerks aus, als entstammten sie einer anderen Welt. Es war ein Schauspiel von Licht und Farbe, wie es Lynareía nie für möglich gehalten hätte.

 

 

Gern hätte sie diese Stadt besucht und den Marmor, das Silber und Gold und die funkelnden Edelsteine aus nächster Nähe bewundert, doch mussten sie bis zum Abendessen zur Agera zurückkehren, und der schon tiefe Stand der Sonne erlaubte keine Verzögerung mehr. Die beiden Elfen wandten sich also von der schönen Bergstadt ab und kehrten in den Wald zurück. Schon bald tauchten die ersten elfischen Behausungen zwischen den Bäumen auf, wenig später erreichten sie den Versammlungsplatz ihres Volkes und steuerten den kleinen Tisch an. Agurminlór war noch nicht da, erschien aber kurz darauf zusammen mit Alysindre, genau pünktlich zum Essen.

 

 

Was gibt es Neues?, fragte ihn Ellijara laut, sobald er nah genug war, um sie verstehen zu können. Agurminlór legte den Zeigefinger auf die Lippen und erwiderte leise: Nicht hier, nicht jetzt. Was heute vorgefallen ist, bleibt vorerst unter uns, in Ordnung? Er blickte die beiden eindringlich an. Lynareía nickte zustimmend, ihr war das nur recht. Ellijara den Blick ihres Mannes mit einem besorgt fragenden ihrerseits, nickte dann aber ebenfalls. Agurminlór sprach weiter: Lynareía, du wirst morgen Nachmittag, direkt nach dem Unterricht, im Turm erwartet, zu einem Treffen mit dem Komitee der Akademie. Keine Sorge, ich werde dich begleiten. Dort wirst du alles weitere erfahren. Bis dahin, versuch am Besten nicht an die heutigen Ereignisse zu denken und konzentriere dich auf den Start deiner magischen Laufbahn.

 

 

Den Rest des Abendessens über sprachen sie nur wenig miteinander. Ellijara faßte für Agurminlór den Rest ihres Rundgangs zusammen, auch er schien nicht besorgt von dem aggressiven, jungen Menschen. Früher oder später lernen sie Alle, dass ihnen Verstecken nichts nützt. Dann kommen sie aus ihren selbstgegrabenen Löchern hervor und du merkst, dass sie eigentlich nicht viel anders sind als du und ich. Nach der ausgiebigen Mahlzeit wandte sich Alysindre an die versammelten Erwählten: Morgen beginnt -für die meisten unter euch zum wiederholten mal, für die Neuen zum ersten mal überhaupt- der Unterricht in der Magie von Neuem. Für die alten Hasen bedeutet das einfach, dass die Pause vorbei ist und ihr weitermacht wie gewohnt. An die Neuen: Ihr findet euch bitte pünktlich zwei Stunden nach Sonnenaufgang in der Akademie ein, in der Halle für den Unterricht in magischer Theorie. Dort werdet ihr bis zum Mittag erfahren, was es mit der Magie und dem Unterricht in selbiger auf sich hat. Nach der Mittagspause beginnt euer Unterricht in den Naturwissenschaften. Anfangs wird euch davon vermutlich nichts unbekannt vorkommen, doch wir wollen sichergehen, dass alle unsere Schüler auf dem gleichen Stand sind. Nun ab in eure Quartiere, ihr wollt morgen nicht verschlafen!