Kapitel 2 - Die Akademie

 

 

Im Westen küsste die Sonne den Horizont, als Lynareía das Ziel ihrer Reise erreichte. Dieser Wald, der nun vor ihr lag, würde für die kommenden Jahre ihr Zuhause sein. Über den Baumwipfeln im Süden ragte der hohe Turm der Akademie auf, ansonsten sah sie nichts als das ewige Blau des Meeres hinter sich und vor sich das strahlende Rot der untergehenden Sonne, sowie das dichte Grün und Braun der Bäume. Sie roch das Salz der See und den frischen, blumendurchtränkten Duft des Frühlings im Wald.

 

 

Am Ende des Piers erwartete eine offensichtlich alte Elfendame die Erwählten. Sie war hochgewachsen, hatte schneeweißes, ein wenig über schulterlanges Haar und deutlich sichtbare Falten um den Mund und die steingrauen, durchdringenden Augen. Wäre sie ein Mensch gewesen, wäre sie wohl um die achtzig Jahre alt gewesen, bei einer Elfe hieß das, dass sie zumindest zwei bis drei Jahrhunderte alt war. Eine genauere Angabe war unmöglich, weil nach so vielen Jahren der Alterungsprozess der Elfen fast zum Stillstand kam. (Tatsächlich war diese Dame zur Zeit des Angriffs auf Idrithil vor über 300 Jahren schon alt gewesen, heute näherte sich ihr Alter dem vierstelligen Bereich.)

 

 

Nachdem sich alle neuen Schüler vor ihr versammelt hatten, lächelte sie und stellte sich als Alysindre vor, die Vertreterin der Elfen im Komitee. Sie bat die Schüler, ihr zu folgen. Sie kamen auf eine Lichtung nahe des Piers. Sie war von riesigen Eichen und einigen Trauerweiden umgeben. In ihrem Zentrum stand ein großer Pavillon, der viele der kleinen und größeren Sitzgruppen auf der Lichtung vor dem Wetter schützte.

 

 

„Das hier ist die „Agera“, der Versammlungsort der Erwählten“, begann sie zu erklären. „Hier werdet ihr gemeinsam Essen, lernen, und Kontakte untereinander knüpfen. Ihr könnt hier eure Freizeit mit Freunden verbringen oder in Ruhe unter den Weiden meditieren. Ab Sonenaufgang ist die Essensausgabe geöffnet. Dort bekommt ihr Getränke und Brot, Butter, Wurst, Käse, Honig und vieles mehr. Warme Mahlzeiten gibt es zum Abendessen bei Sonnenuntergang. Dabei werdet ihr auch gleich die älteren Schüler kennenlernen und danach werden euch eure Quartiere zugewiesen. Gebt mir dafür bitte eure Wunschzettel ab, die ihr auf dem Schiff erhalten habt, wir werden versuchen euren Wünschen so gut es geht zu entsprechen, nur seid bitte nicht allzu enttäuscht, wenn gerade keines eurer Wunschquartiere verfügbar ist, ihr könnt euer Quartier jederzeit umziehen, wenn eines frei wird. Nun sucht euch erstmal einen Platz fürs Abendessen!“

 

 

Lynareía gab Alysindre ihren Wunschzettel, in der Hoffnung, dass es ein Quartier mit Blick aufs Meer für sie gab. Am südlichen Rand der Lichtung stand eine kleine Hütte mit einem Ausgabefenster, dort konnte man sich wohl das Essen holen. Sie steuerte darauf zu und suchte sich einen kleinen Tisch in relativer Nähe am Rand der Lichtung aus, an dem sie sich niederließ. Kurz darauf strömten auch schon aus allen Richtungen die restlichen Erwählten auf die Lichtung. Sie entdeckte auch ein paar ältere Elfen, die wohl fertig ausgebildete Magier waren, die entweder auf Besuch hier waren, oder zu den Lehrern gehörten. Sie erschrak, als zwei von ihnen, ein Mann und eine Frau, direkt auf ihren Tisch zukamen und sie dabei unverwandt anblickten.

 

 

„Können wir uns setzen, das hier ist sozusagen unser Stammplatz“, fragte der Mann Lynareía. Sie murmelte leise etwas von wegen „das habe sie nicht gewusst“ und „sie würde sich einen anderen Platz suchen“, doch die Frau ging dazwischen: „Nicht doch, wir wollen dich nicht vertreiben, wir wollten nur wissen, ob wir uns zu dir setzen dürfen.“ „N-Natürlich“, erwiderte Lynareía immer noch leise. „Danke sehr! Mein Name ist übrigens Eljiara und das ist mein Mann Agurminlór, er ist der Spezialist für Wassermagie hier an der Akademie.“ „Solltest du also Fragen zum Wasser haben, wende dich am Besten an uns“, warf dieser noch ein, während sich die Beiden setzten. Diese Bemerkung ließ Lynareías Scheu in Neugierde und Begeisterung umschlagen „Ich heiße Lynareía, ich komme aus Adra. Das Wasser habe ich schon immer geliebt!“, erwiderte sie hastig. „Na, dann werden wir uns doch bestimmt gut verstehen“, bemerkte Agurminlór, schmunzelnd über den raschen Gemütswandel der jungen Schülerin, „Ah, das Essen ist da!“

 

 

Wenig später saßen die drei wieder an dem kleinen Tisch am Rande der Lichtung, nun hatte jeder eine Portion Fisch samt Nudeln vor sich, verfeinert mit einer zarten Sauce aus Zitronen, geriebenem Käse und Kräutern. Sie unterhielten sich lange darüber, was Lynareía in den nächsten Tagen und Wochen erwarten würde, doch hauptsächlich redeten sie über die Schönheit des Meeres, das sanfte Schaukeln der Schiffe und die schrecklich beeindruckende Schönheit der Stürme, das betörende Rauschen der Wellen und die fesselnde Unendlichkeit des Horizonts.

 

 

Als das Abendessen zu Ende war, kehrte Alysindre auf die Lichtung zurück und ihre Stimme klang laut durch die Nacht: "Wir haben den neuen Schülern nun ihre Quartiere zugewiesen. Bitte kommt gleich zu mir, damit ich euch den Weg beschreiben kann, das gilt auch für die Älteren unter euch, die einen Umzug beantragt haben. Dann holt ihr euer Gepäck vom Schiff oder aus eurem alten Quartier und bezieht euer neues Zuhause. An die Älteren: Bitte unterstützt die Neuen bei der Suche nach ihren Quartieren, ich kann nicht Alle einzeln hinführen wenn ich auch noch etwas schlafen soll! Morgen wird kein Unterricht stattfinden, damit die Neuen sich einleben und ihre Nachbarn kennenlernen können. Für die Älteren Schüler geht der Unterricht übermorgen wie gewohnt weiter, den Neuen werde ich morgen Abend mitteilen, wo und wann ihre Ausbildung stattfinden wird. Ich wünsche Allen eine gute Nacht und hoffe, ihr seid mit euren Quartieren zufrieden!"

 

 

Lynareía erhob sich und wollte sich und ging zu Alysindre, gespannt, wie ihr Quartier wohl aussehen würde. Agurminlór und Elljiara blieben vorerst sitzen, um das größte Gedränge abzuwarten, und beobachteten Lynareía, die als eine der Ersten bei Alysindre ankam. Diese konnte ihre Begeisterung kaum zurückhalten. "Direkt am Meer? Wirklich?", fragte sie aufgeregt. "Ja, etwa drei Minuten Fußweg nördlich des Piers. Es wurde vor etwa einem Monat frei als einer unserer Älteren die Akademie verließ.", erklärte ihr Alysindre, erfreut über ihre Begeisterung.

 

 

Agurminlór und Elljiara erwarteten sie schon, als sie in Richtung Pier losging. "Und?", fragte Elljiara. "Alysindre hat gesagt, ich bekomme ein Baumhaus direkt am Meer! Nicht weit nördlich vom Pier!", sprudelte es begeistert aus ihr heraus. Agurminlór schien freudig überrascht ob dieser Neuigkeit: "Ich weiß welches sie meint, dort ist momentan nur ein Quartier frei, nun, wohl eher frei gewesen. Das ist ganz in der Nähe unserer Hütte! Hol dein Gepäck, wir führen dich hin!"

 

 

Wenig später bekam Lynareía den Mund vor Staunen nicht mehr zu, ihr Quartier war wie die Erfüllung eines Traums. Es war in die Krone eines großen Ahornbaums gebaut, so perfekt zwischen Stamm und Äste eingefügt, als gehöre es zum Baum selbst. Der Baum war etwas schräg zum Meer hin gewachsen, so dass Lynareía von der Terasse direkt ins Meer springen konnte, wenn sie wollte. Ihr Baumhaus gehörte zu einer Siedlung und sie sah viele erleuchtete Fenster in den Bäumen und von Hütten um ihre herum. Elljiara lächelte die vor Freude hüpfende Lynareía an: "Dir scheint dein neues Zuhause ja zu gefallen, wir lassen dich jetzt einziehen, morgen kannst du uns ja besuchen kommen, dann gehen wir gemeinsam Frühstücken. Wir wohnen gleich hinter dem Hügel dort in der Hütte etwas abseits", dabei zeigte sie nach Nordosten, wo Lynareía durch das Licht der Quartiere eine Anhöhe erahnen konnte. "Danke euch, bis morgen dann.", verabschiedete sich Lynareía. Agurminlór erwiderte noch: "Nichts zu danken, wir freuen uns schon!", dann verschwand das Paar in der Nacht und Lynareía stieg die Treppe zu ihrem Baumhaus empor, die den schrägen Stamm hinaufführte.

 

 

Drinnen fand sie einen Raum, in dem ein Bett und ein Tisch standen, Letzterer unter einem Fenster zur Terasse, die aufs Meer hinausging. Eine Wand des Raums bestand aus einem großen Schrank, in dem Lynareía ihre Sachen mehrmals hätte verstauen können. Gegenüber davon fand sie das Bad mit einer Wanne, einem erhöhten Becken und einer Toilette (sie hoffte, dass diese nicht direkt bei der Hütte ins Meer führte). Sie vermutete (und sie lag volkommen richtig), dass die Wasserversorgung, wie in ihrer Heimat auch, auf Magie basierte. Sie nahm ein Bad in der heißen Wanne, um den Schmutz der Reise loszuwerden, dann fiel sie in das wunderbar weiche Bett. Ihre Erschöpfung siegte über die Aufregung und sie schlief fast sofort ein.