Kapitel 4 – Leonard

 

 

 

 

Nach einem weiteren Tag meines Lebens, der genauso trostlos und niederschmetternd verlaufen war wie so viele vor ihm und wie wahrscheinlich noch viele mehr nach ihm, freute ich mich wie immer auf den einzigen Lichtblick, den ich hatte: Die kleine Lichtung im Wald in einer Biegung des plätschernden Bachs. Dort würde der alte Geschichtenerzähler am Lagerfeuer auf mich warten, um mir die nächste Geschichte zu erzählen. Der Schlaf kam über mich und trug mich fort aus dieser harten, kalten Realität und in den Wald, in mein Refugium. Ich erreichte die Lichtung, und wie immer begann der Alte zu erzählen, nachdem ich mich gesetzt hatte:

 

 

 

Ich werde dich heute erneut auf eine Reise ins Land Eltara führen, jedoch werde ich dir nicht von der Elfe Lynareía aus Adra erzählen. Heute werde ich dir von einem anderen Großen dieser Zeit berichten. Einem Sohn der Menschen.

 

 

 

Leonard Altraß, der 19-jährige junge Mann mit nussbraunen, kurzem Kraushaar und Backenbart, saß stolz in seinem verzierten Sattel, hoch aufgerichtet auf seiner schönen, glänzend schwarzen Stute, am Anfang des Zuges. Seit dem Morgengrauen ritten sie, immer am Fluss entlang, nach Nordwesten. Bis zum Abend sollten sie Burmingen erreicht haben, die Hafenstadt der Menschen. Von dort aus würde sie ein Schiff zur Insel der Magie tragen, wo er die nächsten Jahre damit verbringen würde, die Macht seiner Magie kanalisieren und zu erweitern.

 

 

 

Vor knapp einer Woche hatte sich die Magie in ihm gezeigt. Erst war eine warme, fast schon heiße Welle von der Brust aus durch seinen ganzen Körper gelaufen, dann waren kleine, tänzelnde Flämmchen um seine Fingerspitzen erschienen. Das Ganze war ebenso schnell wieder vorbei, wie es begonnen hatte, und schon am nächsten Tag hatte er sich von seinem Vater, dem Direktor der größten Bank von Amundarnen, und seiner Mutter verabschiedet und war losgeritten zum Kloster der Vier. Dort hatte er mit den anderen Begabten den Segen der vier magischen Aspekte empfangen und war an diesem Morgen mit ihnen zur Akademie aufgebrochen.

 

 

 

Er hatte immer auf dieses mächtige Geschenk gehofft. Nun, da er es tatsächlich erhalten hatte, brannte er darauf, die Möglichkeiten seiner Magie zu erkunden und so weit wie möglich auszuweiten. Er erinnerte sich an den Blick seines Vaters, als die Magie sich gezeigt hatte: Stolz und Anerkennung hatten ihm förmlich aus den Augen gestrahlt, als er seinen einzigen Sohn stumm musterte. Er würde seinen Vater nicht enttäuschen, er würde aus seinem Geschenk alles herausholen, was ihm irgendwie möglich war, er würde der mächtigste menschliche Magier aller Zeiten werden, wenn es ging der mächtigste Magier überhaupt.

 

 

 

Als sie die Brücke über den Fluss überquerten und Burmingen in Sicht kam, sah er schon den großen, edlen Dreimaster im Hafen liegen. Morgen würde dieser ihn zur Akademie bringen. Dort würde er zum Ersten mal in seinem Leben die geheimnisvollen Elfen treffen. In der Bank seines Vaters, in der er als Juniorchef gearbeitet hatte, hatte er schon oft mit Zwergen und das eine oder andere Mal auch mit Orks verkehrt. Diese kannte er also schon, zumindest oberflächlich. Die Zwerge waren körperlich sehr kräftig und geschickte Handwerker, aber sie blieben gern unter sich, waren dickköpfig und meist nicht gerade mit überragender Intelligenz gesegnet, um es höflich auszudrücken. Die Orks waren zwar weniger kräftig als die Zwerge, dafür allerdings verschlagener und wortgewandter, immer auf den eigenen Vorteil aus. Bei ihnen musste man genau darauf achten, was man versprach und was die versprochene Gegenleistung war.

 

 

 

Von den Elfen jedoch wusste Leonard nur sehr wenig, und noch weniger mit Gewissheit. Er wusste nur, dass alle Elfen zumindest die einfache Magie beherrschten und dass ihre „Erwählten“, die an der Akademie studierten, als mit Abstand mächtigste Magier der vier Völker galten. Früher, vor vielen Generationen, hatten die Elfen in dem großen Wald nahe der Hauptstadt gelebt, heute erinnerten nur noch die Ruinen ihrer Hauptstadt Idrithil an diese Zeit. Wachsende Spannungen zwischen den Elfen und Menschen hatten damals zu einer großen Schlacht geführt. Als den Elfen von anderen Völkern jegliche Hilfe verweigert worden war, flohen sie Alle aus den Wäldern Taras nach Elka. Die Drachen, die solche Gewalt als Bedrohung des natürlichen Gleichgewichts sahen, besiegelten kurz darauf den großen Friedenspakt. Dieser sollte den Frieden zwischen den großen Völkern für alle Zeiten wahren.

 

 

 

 

Die Elfen aber waren zu tief getroffen worden, sie kehrten nicht nach Tara zurück. Sie blieben unter sich in den Wäldern Elkas. Unter den Menschen erzählt man sich, dass ihre Wut über den Angriff noch immer lodert, dass sie nur auf den richtigen Moment für ihre Rache warten. Leonards Vater hatte ihm eingeschärft, sich von den Elfen fernzuhalten, und Leonard würde sich daran halten. Er konnte die Wut der Elfen gut verstehen, er wäre auch auf Rache aus, wenn er aus seiner Heimat vertrieben worden wäre. Nach Allem, was er wusste, waren die Elfen überaus schlau und mächtig und nicht gut auf Menschen zu sprechen. Er würde ihnen keine Zielscheibe bieten, zumindest nicht bis er selbst genug gelernt hatte, um es mit ihnen aufzunehmen. Wenn es soweit war, würde er sein Volk vor allen Bedrohungen beschützen.