Kapitel 3 - Ein Rundgang

 

 

 

 

Als Lynareía erwachte, war die Sonne noch nicht aufgegangen, auch wenn sie wohl nicht mehr lange auf sich warten lassen würde. Sie hörte Vogelgezwitscher und das Rauschen von Wellen an einem Strand. Das verwirrte sie kurz, bis ihr wieder einfiel wo sie nun lebte. Sie trat auf die Terrasse und sprang in das schwarze Wasser darunter. Einfach, weil ihr danach war und sie es konnte. Es war kühl, aber nicht allzu unangenehm. Sie schwamm noch etwas herum, dann kam sie aus dem Wasser und kehrte in ihr Baumhaus zurück. Dort wärmte sie sich in der Wanne kurz auf und wusch das Salz und den Sand ab.

 

 

Als sie wieder vor ihre Hütte trat, erhellten die ersten Sonnenstrahlen des neuen Tages die Baumkronen. Sie hielt kurz inne, atmete in der frischen Morgenluft einmal tief durch und genoß diesen wundervollen Anblick. Gestern war es schon Nacht gewesen und zu dunkel, um viel zu erkennen. Nun, da sie ihre neue Heimat im ersten Tageslicht sah, war sie überwältigt von der Schönheit der kleinen Hütten und Baumhäuser. Sie passten sich wie selbstverständlich in den umgebenden Wald ein, als wären sie gemeinsam mit ihm gewachsen. Es war noch früh und zudem ein freier Tag, so war außer ihr noch niemand draußen unterwegs. (zumindest sah sie niemanden, als sie sich auf ihren Weg über den Hügel machte.)

 

 

Sie erreichte die Senke auf der anderen Seite des Hügels, und sah sofort die Hütte, die Elljiara und Agurminlór gehören musste. Wobei sie der Meinung war, dass Hütte eine unpassende Bezeichnung für dieses kleine Paradies war. Tatsächlich viel ihr keine Bezeichnung ein, die so recht passen wollte. Was sie sah war zu schön und groß für eine Hütte, aber zu klein, um es Haus zu nennen. Sie entschied sich vorerst für Häuschen. Es hatte ein Erdgeschoss und eine Dachetage samt großer Dachterrasse Richtung Süden. Dort lag außerdem ein kleiner Weiher, der von einem klaren Bach gespeist wurde.

 

 

Agurminlór erwartete sie bereits auf einer Bank am Ufer. Er winkte sie zu sich und bedeutete ihr, sich zu setzen. Sie ließ sich neben ihm nieder und bewunderte die Idylle, die der Weiher bot. Schön, nicht wahr?, fragte Agurminlór in ihr Schweigen. Sie antwortete, wie aus einer Trance erwachend: Oh ja!  Und wie gefällt dir dein Baumhaus? Ein bisschen neidisch bin ich ja schon, nur brauchen wir eben ein Zuhause für Zwei. Lynareías Gesicht bekam wieder einen träumerischen Ausdruck, als sie zu schwärmen begann: Es ist einfach perfekt! Alles ist wunderschön und ich kann immer die Wellen am Strand hören! Das Beste ist die Terrasse, ich bin vorhin schon ins Meer gesprungen! Es ist einfach Alles, was ich mir wünschen kann zusammen, wie die Erfüllung eines großen Traums!

 

 

In diesem Moment trat Elljiara auf die Dachterrasse und begrüßte die Beiden fröhlich: Guten Morgen ihr Beiden! Du hattest wohl keine Probleme im neuen Heim, wenn du so früh schon auf den Beinen bist, oder? Nein, es ist einfach perfekt hier!, erwiderte Lynareía. Zumindest bisher, dachte sie im Stillen. Jetzt da wir Alle auf den Beinen sind was haltet ihr von einem Frühstück? Diese Frage kam von Agurminlór. Er war schon eine ganze Weile wach und deshalb recht hungrig. Die zwei Frauen waren einverstanden, und so saßen sie bald wieder zu dritt an dem kleinen Tisch auf der Agera und aßen gemeinsam, wie schon am Abend zuvor.

 

 

Nachdem der größte Teil des Hungers beseitigt war, erkundigte sich Elljiara, ob Lynareía schon irgendetwas Bestimmtes für diesen Tag vorhatte. Als diese verneinte, schlug Elljiara vor: Wir dachten uns, dass wir dir heute die Insel zeigen könnten, damit du dich hier schonmal ein bisschen auskennst. Wir würden zuerst nach Süden zur eigentlichen Akademie gehen und danach an der Ostküste der Insel entlangziehen, damit du die Dörfer der Menschen, die Stadt der Zwerge und die Camps der Orks siehst. Hier bekam Lynareías Gesicht einen besorgten, fast ängstlichen Ausdruck. Elljiara versuchte, sie zu beruhigen: Du fühlst dich dabei nicht wohl, das verstehe ich. Wir fürchten uns immer vor dem Unbekannten. Aber du brauchst dich hier nicht zu fürchten. Die Akademie ist dafür da, die Völker in Freundschaft zu verbinden und der große Friedenspakt sorgt dafür, dass alle Schüler der Akademie auf dieses Ziel hinarbeiten. Spätestens im Unterricht wirst du dich den anderen Völkern stellen müssen. Besser, du lernst sie vorher schon kennen. Denn das führt zum Verstehen, und was wir verstehen, brauchen wir nicht länger zu fürchten.

 

 

Erstmal bringen wir dich zur Akademie im Süden. Danach kannst du immer noch entscheiden, ob du die anderen Völker besuchen willst oder nicht., wandte Agurminlór ein. Damit war Lynareía einverstanden, und nachdem das Frühstück beendet war wanderten sie zu dritt durch den Wald, immer in Richtung des großen Turms.

 

 

Auf dem Weg durch den Wald fragte Lynareía schließlich, wann den ihr Unterricht bei Agurminlór beginnen würde. Er lachte: Kannst es nicht erwarten, wie? Leider muss ich dich enttäuschen, denn ich gebe keinen Unterricht hier. Zum tatsächlichen Unterricht gehört nur die Geschichte Eltaras, die Stärkung des Geistes, die Naturwissenschaften sowie die Theorie der Magie. Die eigentliche Anwendung dieses Wissens in der Magie wirst du durch selbstständiges experimentieren, zusammen mit den anderen Schülern, erlernen. Wir Spezialisten der Elemente sind dazu da, bei diesen Experimenten zu unterstützen und eventuelle Fragen zu beantworten. Wozu müssen wir den Naturwissenschaften lernen, wenn wir die Magie beherrschen?, fragte Lynareía. Sie hatte nichts gegen Naturwissenschaften, es hatte sie schon immer interessiert wie die Welt um sie herum funktionierte. Es war eine Frage aus reiner Neugierde. Die Magie ist im Grunde nichts anderes, als das Manipulieren deiner Umgebung durch Willenskraft. Ein gutes Verständnis deiner Umgebung erleichtert das gezielte Manipulieren enorm., erklärte ihr Agurminlór, Ah, wir sind da!

 

 

Vor ihnen gaben die Bäume den Blick frei auf die Akademie. Ihr Weg führte geradewegs auf den großen Turm auf der hohen Klippe zu. Unter ihm, links und rechts des Weges standen große, lange Säulenhallen. Während sie auf den Turm zuliefen, erklärte Agurminlór: In diesen Gebäuden findet dein Unterricht statt. Welcher Unterricht wo stattfindet, steht über den Eingängen und auf Wegweisern, wie diesem hier. Er zeigte auf den Wegweiser, als sie über die Kreuzung liefen.

 

 

Kurz darauf hatten sie den großen Turm erreicht. Lynareía war durch den Aufstieg etwas außer Atem. Vor dem Turm lag ein großer, gepflasterter Platz. Agurminlór erklärte ihr, dass das der Drachenplatz war. Er diente den Drachen als Landeplatz bei ihren seltenen Besuchen. Auf dem Dach des Turms thronte die riesige Statue eines dieser Drachen. Lynareía wollte fragen, welchen Drachen diese Statue darstellte, doch Elljiara lenkte sie vorher ab: Hier, der große Friedenspakt. Die Magie in diesem Stein ist der Grund dafür, dass es Begabte und Erwählte gibt, die hier die Kunst der Magie erlernen. Lege doch einmal deine Hand auf den Stein. Sie stand neben einer großen Steinplatte in der Fassade des Turms, in die ein Gedicht gemeißelt war:

 

 

Der große Friedenspakt

 

Unsre Welt ist voll von Leiden,

Sie gedeihn in Hass und Missgunst.

Alle Völker dieser Lande,

Seht ihr nicht die Schönheit euer?

Wachet auf aus eurem Neiden!

Teilen sollt ihr eure Kunst!

Knüpft der Freundschaft starke Bande,

Sonst sollt ihr bezahlen teuer.

 

Diese Mauern ihr nun sehet,

Hier auf neu erhobnen Landen,

Diesem Zwecke solln sie dienen,

Freundschaft zwischen Feinden schaffen.

Ihr, die nun am Turm hier stehet,

Denket der, die vor euch standen,

Nach der Schlacht mit traurgen Mienen,

Über Opfern ihrer Waffen.

 

 

Hiermit wollen wir verkünden:

Unsre Macht soll wahrn den Frieden!

Söhn und Töchter aller Lande,

Kommet alle hier zusammen!

Eine Schul hier soll entstehen,

Allen die Magie zu lehren,

Um zu bringn durch Freundschaft Bande

Alle Völker dicht beisammen.

 

 

 

Lynareía legte ihre Hand auf den Stein. Der Stein fühlte sich warm an, er schien zu pulsieren, als würde irgendetwas in ihm leben. Elljiara, die Hand neben ihrer auf dem Stein, sprach zu ihr: Spürst du das? Das ist die Magie der Drachen. Sie sorgt ständig für die Erfüllung des Pakts. Sie sorgt dafür, dass einige Elfen und auch Menschen, Zwerge und Orks außergewöhnliche magische Fähigkeiten erlange. Sie sorgt dafür, dass diese außergewöhnlichen Magier hier zusammenkommen, um Freundschaften zwischen den Völkern zu schmieden. Diese Magie beschützt dich, Lynareía. Sie will, dass du und alle anderen Schüler hier zu starken Kämpfern für den Frieden und das Gute in dieser Welt werdet und wird euch allen diesen Weg weisen.

 

 

In diesem Moment fuhr eine heiße Schockwelle aus dem Stein durch Lynareía und sie stolperte benommen ein paar Schritte rückwärts. Als ihr wieder klarer wurde, fühlte sie ein schwaches Echo des pulsierenden Etwas aus dem Stein in ihrem eigenen Körper. Agurminlór fragte erschrocken: Was ist los? Was ist passiert? Alles in Ordnung? Lynareía antwortete, kräftiger als sie selbst es erwartet hätte: Ja, alles in Ordnung. Ich weiß nicht was das war, es war wie eine heiße Welle, die aus dem Stein durch mich hindurchlief. Und jetzt fühle ich außerdem etwas wie die Magie des Steins in mir. Was bedeutet das? Agurminlór blickte sie mit einer Mischung aus Besorgnis und Neugierde an: Das kann ich dir nicht sagen, ich habe noch nie von so etwas gehört. Scheint so, als hätte der Stein etwas von seiner magischen Kraft auf dich übertragen. Ich werde mich mit dem Komitee und den anderen Lehrern und Spezialisten darüber beraten. Elljiara kennt die Insel so gut wie ich, sie kann dir den Rest ohne mich zeigen. Ich denke, wir dürfen Großes von dir erwarten, Lynareía. Damit betrat er den Turm und ließ Elljiara und die verwirrte und besorgte Lynareía zurück.

 

 

An dieser Stelle endet für heute die Geschichte. Es ist Zeit für dich, in deine Welt zurückzukehren.

 

 

Ich wollte nicht gehen. Ich wollte wissen, wie es mit Lynareía weiterging, wollte wie immer hier, auf dieser schönen Lichtung bei dem alten Geschichtenerzähler, bleiben. Jedoch begann die Umgebung schon undeutlich zu werden, als ob ein dichter Nebel aufziehen würde, um sie vor meinem Blick zu verbergen . Wie von fern hörte ich meine Stiefmutter rufen: ich solle endlich aufstehen, sonst müsse ich ohne Frühstück los. Lass mich noch ein bisschen bleiben!, wollte ich rufen, doch meinem Mund entwich nur ein undeutliches Stöhnen. Links neben meinem Bett gurgelte die alte Heizung. Ich hing wieder in der Wirklichkeit meines unglücklichen, erbärmlichen Lebens fest, zumindest bis zum Abend...